Diese Schrift wendet sich an Studenten der Chemie, die an einem tieferen Verständnis ihres Faches interessiert sind, aber auch an angehende Studienräte, die ihre Schüler mehr als nur oberflächlich für Chemie begeistern wollen. Letzteres ist durchaus möglich, denn die meisten klassischen Versuche lassen sich mit einfachen Mitteln im gymnasialen Chemieunterricht durchführen und von Schülern deuten, sofern man zunächst von "klassischen Begriffen und Definitionen" ausgeht, die für Anfänger wesentlich besser verständlich sind als die modernen Begriffe und Definitionen. Mit einer "modernen" chemikalienfreien und gerätefreien Chemiesammlung, in der Smartboard und PC den Schülern lediglich eine "virtuelle Chemie" auftischen, lassen sich die beschriebenen Experimente freilich nicht durchführen. Im Hauptteil dieser Schrift werden die entsprechenden Versuche ausführlich besprochen, entweder direkt in den entsprechenden Kapiteln, oder aber im jeweiligen Anhang zu denselben.

Natürlich zeichnet der Hauptteil dieser Schrift die historische Entwicklung in etwa nach, es sei jedoch davor gewarnt, diesen Teil als "Geschichte der Chemie des 19.Jahrhunderts" misszuverstehen: Erst als CANNIZZARO auf dem "Chemiker-Kongress von Karlsruhe" im Jahre 1860 die schon lange bekannten, jedoch ignorierten, Erkenntnisse AVOGADROS aus dem Jahre 1811 in die Chemie einführte, wurde die Atomistik allgemein akzeptiert. Die Jahrzehnte davor werden von manchen Chemiehistorikern als das "Zeitalter der Verwirrung" bezeichnet, zum einen, weil viele Chemiker die Atomistik ablehnten und daher z.B. Analysenergebnisse weiterhin in Gewichtsprozenten angaben, ohne diese dann in chemische Formeln umzurechnen, zum anderen, weil viele Atomgewichte in Wahrheit Äquivalentgewichte waren, die erst mit einem passenden Faktor in die entsprechenden Atomgewichte umgerechnet werden mussten, und dies war ohne AVOGADROS Hypothese nicht möglich. Dies führte beim Aufstellen von Formeln natürlich zu großer Verwirrung. Ein Beispiel:

In Ameisensäure (H2CO2) kommen auf 2g Wasserstoff 12g Kohlenstoff und 32g Sauerstoff. Schreibt man Sauerstoff das Atomgewicht 8 zu, führt das zur Formel H2CO4; schreibt man andererseits Kohlenstoff das Atomgewicht 6 zu, erhält man H2C2O2.

Nun neigt die Nachwelt stets dazu, geschichtliche "Brüche" mit dramatischen Ereignissen (z.B. großen Schlachten) und/oder den Namen "großer Männer" zu verbinden, und dies ist auch unumgänglich, denn nur derartige "Zeitmarken" ermöglichen es, in der uferlosen Welt der Geschichte die Orientierung zu wahren. Tatsächlich sind die Vorgänge jedoch stets wesentlich komplexer! Und dies gilt auch für die "Geschichte der Chemie": Wissenschaftshistoriker konnten immer wieder nachweisen, dass bestimmte Ideen und Erkenntnisse schon sehr viel früher mehr oder weniger vollständig formuliert wurden, wobei die entsprechenden Namen heute nur noch wenigen Spezialisten bekannt sind. KEKULÉ hat dies während der "KEKULÉ-Feier" 1890 folgendermaßen ausgedrückt (zitiert nach WIKIPEDIA):

"Man hat gesagt: die Benzoltheorie sei wie ein Meteor am Himmel erschienen, sie sei absolut neu und unvermittelt gekommen. Meine Herren! So denkt der menschliche Geist nicht. Etwas absolut Neues ist noch niemals gedacht worden, sicher nicht in der Chemie."

Im Hauptteil dieser Schrift werden all diese "Vorahnungen", Umwege und Irrungen nicht beschrieben, der Interessierte sei auf einschlägige historische Werke verwiesen, von denen einige im Anhang aufgeführt werden. Diese Schrift will vielmehr die grundsätzlichen Ideen und Zusammenhänge aufzeigen, die in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts zur "klassischen Atomtheorie" führten und damit zur Enträtselung der Materie, soweit dies mit chemischen Methoden möglich war, aber auch einige grundsätzliche Schwierigkeiten herausarbeiten.

Gesetze und Definitionen sind so formuliert, dass sie für heutige Schüler einsichtig sind. Die Originalformulierungen der Gesetze werden nicht gegeben, bei den Begriffsdefinitionen kommt die Schwierigkeit hinzu, dass sich auch diese schrittweise entwickelten und auch nicht immer von allen Chemikern akzeptiert wurden. Die in dieser Schrift gegebenen Definitionen sind zwar "klassisch", stehen aber zugleich oft am Ende eines jahrzehntelangen Ringens.

Die Lebensdaten und Lebensläufe der im Text zitierten Personen sind stets WIKIPEDIA entnommen. Die Originalartikel geben noch zahlreiche weitere Informationen, zudem enthalten sie Links zu ergänzenden Seiten. Ich werde in den folgenden Kapiteln nicht immer wieder auf diese wichtige Quelle aufmerksam machen.

Wenn es mir gelungen ist, bei einigen Lesern das Interesse an der geschichtlichen Entwicklung der Chemie zu wecken (s. Literaturliste), wäre der Zweck dieser Schrift erfüllt, denn die Geschichte der Chemie mit all ihren Vorahnungen, Umwegen und Wirrungen ist deshalb so faszinierend, weil sie das jahrhundertelange Ringen des menschlichen Geistes mit den Rätseln der Materie widerspiegelt, und noch immer gibt es diesbezüglich vieles zu entdecken!

Dr.G.Rosenfeldt

2017

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